Einleitungstext

(In-)Kohärenz von Politiken zur Umsetzung der SDGs

 

Autoren: Imme Scholz, Kai Niebert

1. Sozial-ökologische Problemlagen

Zielkonflikte zwischen Sektorpolitiken und unterschiedliche Bewertungen der ökologischen und sozialen Auswirkungen von Politiken sowie Produktions- und Konsummustern tragen wesentlich dazu bei, dass umwelt- und sozialpolitische Ziele nicht erreicht werden und der Umbau von Sektoren der Wirtschaft und von Versorgungsinfrastrukturen nicht energisch genug vorangetrieben wird bzw. soziale und ökologische Kosten nicht ausreichend beachtet werden.

Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit ihren 17 Sustainable Development Goals (SDGs) reagiert auf diese Situation. Sie formuliert einen dreifachen Anspruch: erstens ein Leben in Würde für alle Menschen zu erreichen, ohne die Belastungsgrenzen der Erdökosysteme zu überschreiten und zweitens die sozialen Ungleichheiten innerhalb und zwischen Staaten zu verringern. Drittens bildet der Wortlaut der 17 Ziele und ihrer Unterziele eine Vielzahl von Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen Politikfeldern ab. Damit ist die Agenda 2030 eine Konkretisierung des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung. 

An die Politik richtet sich damit die Forderung, Sektorpolitiken zur Umsetzung der SDGs kohärent zu konzipieren und die sektorübergreifende Governance zu verbessern. Hinzu kommt, dass die Globalisierung von Produktion und Konsum und der damit einhergehenden Beeinflussung der Erdsysteme holistischere und zugleich abgestimmte Politiken erforderlich macht: Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Problemlagen, deren Ursachen sowie Wechselwirkungen zwischen mittelfristigen Zielen und kurzfristigen Schritten müssen bedacht werden. Darauf sind heute weder öffentliche Institutionen, noch Legitimationsverfahren und Zeithorizonte von Legislaturperioden und Gesetzgebung ausgerichtet.

2. Darstellung des Wissensstandes und Forschungslücken

Die Erfolgsbedingungen intersektoraler Politik und ihrer Abstimmung können aus drei Perspektiven analysiert werden: (1) der Politiken selbst, (2) der Institutionen und Verfahren zu ihrer Entwicklung und Abstimmung und (3) aus übergeordneten normativen Aspekten, die in politischen Ordnungen, ihrer Praxis und ihren Ergebnissen enthalten sind.

Zu Inkohärenzen zwischen Sektorpolitiken gibt es viele Studien, neuere mit direktem Bezug zu den SDGs (z.B. ICSU / ISSC 2017) und ältere, bspw. zum Nexus zwischen der Nutzung von Wasser, Land und Energie einerseits und der Bereitstellung von Energie, Wasserversorgung und Ernährung andererseits (z.B. Badhuri et al. 2015). Bei den Nexusanalysen wird zunehmend auch auf Governancefragen, d.h. auf Fragen von Institutionen und Verfahren für die Politikkoordination, rekurriert (z.B. Dombrowsky / Scheumann / Never 2016; Weitz et al. 2017). Letztere wurden aus politikwissenschaftlicher Sicht vor allem unter dem Stichwort „environmental policy integration“ untersucht (z.B. Jordan / Lenschow 2008). Im Vordergrund standen dabei verschiedene Ansätze und Instrumente, die auf die Verbesserung der horizontalen und vertikalen Politikkoordination und andere Governance-Elemente abzielen (z.B. Nachhaltigkeitsstrategien, Umweltverträglichkeitsprüfung und strategic assessment of environmental impacts, Partizipation gesellschaftlicher Akteure, Monitoring und Evaluierung). Deren Wirkung mit Blick auf die strategische Neuorientierung von Sektorpolitiken, die Entstehung von Politikinnovationen einerseits und die Einführung verbindlicher Verfahren und Institutionen für die Lösung von Zielkonflikten war jedoch schwach. Auch zeigt die Literatur zur technologieorientierten Innovationsforschung, dass das Interesse an nachhaltigkeitsorientierten Innovationen erst spät und nur in Nischen entstanden ist (z.B. Leach et al. 2012, Berkhout et al. 2009, Kemp et al. 2007). Eine – wichtige – Ausnahme bilden die Klimapolitik und die hohe Diffusionsdynamik von erneuerbaren Energietechnologien.

Zum normativen Gehalt politischer Ordnungen gibt es aus der Perspektive nachhaltiger Entwicklung und Praxis wenig; im deutschen Kontext können die Arbeiten zu gemeinwohlorientierter Politik Anfang der 2000er Jahre genannt werden (Münkler 2010, zu Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeit siehe Weidner 2002). Dies ist eine erhebliche Lücke, da sowohl die Analysen von Politiken als auch von Institutionen und Verfahren zeigen, dass Inkohärenzen stark auf die unterschiedlichen impliziten und expliziten normativen Vorgaben in einzelnen Sektoren und das Fehlen gemeinsamer übergeordneter und verbindlicher Bewertungsmaßstäbe für soziale und ökologische Trends zurückgeführt werden können. Die arbeitsteilige Organisation von politischem und administrativem Handeln, das stark auf eine ebenso sektoral und disziplinär organisierte und getrennte Wissensbasis zurückgreift, stößt bei vernetzten Problemen auf Grenzen, die Veränderungen in der Wahrnehmung und im Verständnis von Problemen erschwert (siehe auch SDSN Index 2017).

3. Beschreibung möglicher Forschungsfragen

Die übergeordnete Fragestellung ist, wie eine angemessene Balance zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen gefunden und die Bearbeitung von Zielkonflikten im Handeln öffentlicher Verwaltungen und der Politik erreicht werden kann. Die Forschung sollte einen Bezug zur deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und Nachhaltigkeitspolitik haben. Wichtig sind auch ländervergleichende Untersuchungen (in Industrie- wie Entwicklungsländern) und die Analyse der internationalen Zusammenarbeit und globaler Prozesse (UN, Regionen, Wechselwirkungen mit multilateralen und völkerrechtlichen Abkommen) an sich und in Wechselwirkungen mit nationaler Politik. In allen drei Feldern ist es wichtig, auf die zeitliche und räumliche Dimension von Prioritätensetzung, Zieldefinition, Instrumentenwahl, etc. zu achten.

  • Interdisziplinäres Arbeiten ist trotz / gerade wegen des politikwissenschaftlichen Gegenstands wichtig, um Problemdefinitionen zu erhalten, mit denen die substanziellen Wechselwirkungen zwischen den Politikfeldern erfasst und nicht bspw. auf reine Interessenskonflikte reduziert werden. Insofern wäre eine Bearbeitung der Fragestellungen dieses Themenfelds auch in Kooperation mit den anderen vorgestellten Themenfeldern fruchtbar und würde diesen eine weitere Dimension hinzufügen. Auch die Frage nach der Rolle von Wissen für Nachhaltigkeit (wie im Themenpapier Planetare Grenzen aufgeworfen) ist hier relevant.
  • Transdisziplinäre Kooperationen mit Praxisakteuren aus der öffentlichen Verwaltung, Verbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem Privatsektor sind aus methodischen Gründen zentral, um Forschungsfragen zu erarbeiten, Untersuchungsfälle und notwendige Daten zu erschließen und Ergebnisse validieren zu können.                           
  • Politiken: In welchen Hinsichten fallen spezifische Sektorpolitiken hinter dem Anspruch einer nachhaltigen Entwicklung zurück? Wie kann die dynamische Anpassung sektorbezogener Politikinstrumente mit Blick auf intersektorale Ziele (Interdependenzen) erreicht werden? Was hemmt / befördert diese Anpassung bisher? Wie kann dabei die schnelle Technologieentwicklung genutzt und den Risiken einer überforderten Politik und Verwaltung begegnet werden? Welche Herausforderungen an der Schnittstelle zwischen technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben sich? Wie können Rebound-Effekte und nichtintendierte negative Effekte vermieden bzw. verringert werden?
  • Institutionen und Verfahren: Welche Instrumente, Verfahren und Institutionen befördern / behindern Verwaltungshandeln und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse für nachhaltigkeits- / gemeinwohlorientierte Entscheidungen zur Erreichung der SDGs? Welche Rolle spielen dabei Instrumente (Nachhaltigkeitsstrategien, UVP etc.), Verfahren (z.B. interministerielle Arbeitskreise, Staatssekretärsausschuss in Deutschland, analoge in anderen Ländern, EU) und Institutionen (z.B. Nachhaltigkeitsräte, Konsultationsverfahren, rechtliche Verankerung von Nachhaltigkeitsprinzipien, Kooperationsverpflichtung von Ministerien, ergebnisorientierte Aufstellung öffentlicher Haushalte, Prüfungsverfahren von Rechnungshöfen)? Welche Erfahrungen gibt es wo mit der gesellschaftlichen Moderation bei Trade-offs wie z.B. Flächenkonkurrenzen? Welche neuen Erfahrungen gibt es mit der Ansiedlung der Zuständigkeit für Nachhaltigkeitspolitik (zentrale/dezentrale Steuerung)? Wie können Netzwerke innerhalb von Politikfeldern und über sie hinweg Prozesse für effektive Leistungserbringung, Lernen und Veränderung bewirken (Unterschiede und Ähnlichkeiten)? Welche Schlussfolgerungen für Innovationen bei Instrumenten, Verfahren und Institutionen lassen sich ziehen?
  • Für die Policy- und die Institutionenforschung ist es fruchtbar, die Erkenntnisunterschiede von sektoralen bzw. institutionellen Analysen zu reflektieren. Auch die Bedeutung und Wirkung von internationaler Kooperation und policy learning ist wichtig (Mechanismen, Lernverläufe und Erfolge in Industrie- und Entwicklungsländern und internationalen Institutionen). Methodisch sind komparative Studien auf verschiedenen Skalen sinnvoll und zwischen Ländern / politischen Ordnungen sinnvoll.
  • Normative Aspekte: Welche Unterschiede lassen sich zwischen politischen Systemen und der Form und Effektivität ihrer Politikkoordination feststellen (z.B. Pfadabhängigkeiten, leap-frogging und Innovation)? Welche praktischen Wirkungen gehen von einer starken Verankerung von Nachhaltigkeitsprinzipien bzw. dem Recht auf eine unversehrte Umwelt in Verfassungen aus? Welche normativen und kognitiven Bedingungen befördern integrierte Politikansätze?
  • Inkohärenz der SDGs und ihre Inkonsistenz mit Blick auf die planetaren Grenzen: Die vorhergehenden Forschungsfragen richten sich auf die Belebung der politik- und sozialwissenschaftlichen Kohärenz- und Koordinationsforschung in Kooperation mit der Innovations-, Technologie- und naturwissenschaftlichen Forschung (je nach den Sektoren, die in den Blick genommen werden). Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage nach den Widersprüchen zwischen den SDGs selbst und ihren Lücken aus der Sicht der planetaren Grenzen. Diese werden teilweise durch andere Themenpapiere abgedeckt, aber nicht systematisch und vollständig. In der 2030 Agenda werden die planetaren Grenzen selbst nicht explizit als Referenz genannt, sie bilden aber einen wichtigen Bezugspunkt für die Forschung und auch an der Schnittstelle zwischen Forschung, Politik und Gesellschaft. Insofern wäre es lohnend, diesen Zusammenhang (Inkonsistenzen zwischen SDGs und den planetaren Grenzen) und wie er von unterschiedlichen Akteuren bewertet und bearbeitet wird, ebenfalls in den Blick zu nehmen.
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