Nachhaltigkeitsbilanz und sozial-ökologische Gestaltungsoptionen der Digitalisierung
Autoren: Ortwin Renn, Thomas Korbun
In den letzten Jahren ist die Digitalisierung in nahezu allen Wirtschafts- und Lebensbereichen allgegenwärtig geworden. Die mit ihr verbundenen Chancen und Risiken werden zunehmend in Medien, Politik und Gesellschaft diskutiert.
1. Sozial-ökologische Problemlagen
Digitalisierung wird häufig mit Effizienzsteigerungen, Komfortgewinn, Ressourcenschonung und Wirtschaftswachstum, aber auch mit Herausforderungen in Bezug auf Energie- und Ressourcenverbrauch, Privatsphäre, Zukunft der Arbeit und Cyber-Sicherheit assoziiert. Derzeit ist jedoch noch unklar, ob und in welchem Ausmaß die Digitalisierung von Kommunikation, Dienstleistungen und industrieller Produktion den Übergang hin zu einer nachhaltigen Entwicklung fördert oder ihn gar behindert. Optionen für eine sozial-ökologische Gestaltung der Entwicklung und Verbreitung digitaler Technologien werden bisher nur in Ansätzen debattiert.
2. Darstellung des Wissensstandes und Forschungslücken
Vorrangig ist der Prozess der Digitalisierung mit der smarten Industrieproduktion verbunden, in Deutschland Industrie 4.0 genannt. Damit ist die weitgehende Selbstorganisation von intelligenten Systemkomponenten in einem komplexen Produktionsprozess gemeint. Maschinen kommunizieren mit anderen Maschinen und gestalten je nach Vorgaben und Umweltbedingungen den Produktionsprozess weitgehend ohne Intervention der Operateure. Die durch Industrie 4.0 ausgelösten Veränderungen in den Produktionsabläufen und bei den Qualitätssicherungsprozessen erfordern eine enge Kooperation in der Steuerung zwischen Menschen und Maschinen, neue Kompetenzen für die qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch ein neues Selbstverständnis im Mensch-Maschine Verhältnis. Innovationen in Richtung auf Industrie 4.0 können leicht als Eingriff in die individuelle Autonomie, als Einschränkung der eigenen Wirksamkeit (agency) und als Bedrohung der eigenen Identität verstanden werden. Des Weiteren ist mit hohen Ressourcen- und Energieverbräuchen für den Aufbau und Betrieb einer vernetzten Produktion zu rechnen. Bislang gibt es zwar schon viele konzeptionelle Untersuchungen und ansatzweise Feldstudien, aber wenig belastbares empirisches Material. Es muss noch empirisch untersucht werden, ob sich tatsächlich Einsparpotentiale ergeben, wenn graue Energieverbräuche, mögliche Rebound- und Output-Effekte, die durch eine effizientere Produktion hervorgerufen werden, berücksichtigt werden. Eine umfassende Risiko-Chancen-Abschätzung steht noch aus.
Neben Veränderungen in der Produktion eröffnet die Digitalisierung neue Möglichkeiten für nachhaltigen Konsum wie für das Zusammenwirken von Produzent/innen und Konsument/innen, beispielsweise im Sinne von Co-Production, Prosuming oder Sharing. Insbesondere kann Digitalisierung dienlich sein, um dezentrale, lokale, gemeinwohl-orientierte oder individualisierte Produktions- und Konsumptionsprozesse zu begünstigen. Hier werden vielfach Chancen für ressourcensparende und suffiziente Ansätze des Wirtschaftens gesehen, die jedoch in der Praxis nicht von alleine entstehen. Digitale Technologien können prinzipiell dazu beitragen, Akteure zu befähigen, ihre Möglichkeiten für nachhaltiges Handeln zu erweitern (Blockchain, „grüne Apps“, kooperative Organisationsformen). Die Erforschung dieser Dynamiken und ihre Gestaltung ist bislang noch kaum vorangeschritten. Insbesondere ist offen, welche Umweltbe- und -entlastungseffekte neue Produktions- und Konsumformen mit sich bringen und unter welchen Bedingungen sie so gestaltet werden können, dass sie einen nennenswerten Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten.
Ein dritter Schwerpunkt der digitalen Transformation ist die Lebenswelt. Stichworte wie „smart home“ oder „smart cities“ beschreiben eine neue Lebenswirklichkeit, in der intelligente Dienstleistungen von Energie über Sicherheit, Gesundheitsmonitoring bis zu Unterhaltung und Kommunikation von intelligenten Steuerungseinheiten weitgehend selbständig durchgeführt werden. In wie weit diese smarte Lebenswelt nachhaltige Strukturen im Sinne von Ökologie, Ökonomie und sozialen Funktionen unterstützt oder behindert, ist noch eine offene Frage. Auch hier ist Forschungsbedarf angesagt.
3. Beschreibung möglicher Forschungsfragen
Auch wenn die Auswirkungen der Digitalisierung in aller Munde sind, so hinkt die Forschung über tatsächliche Wirkungen der Digitalisierung der gesellschaftlichen Diskussion hinterher. Von daher ist es dringend erforderlich, mit Hilfe transdisziplinärer Forschungsansätze die Auswirkungen digitaler Technologien und Dienstleistungen in Gesellschaft und Wirtschaft und die Konsequenzen für die Umwelt wissenschaftlich fundiert abschätzen zu können sowie Potenziale und Risiken der Digitalisierung für eine Transformation in eine nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur zu identifizieren. Wichtig ist dabei auch ein Blick über den nationalen Tellerrand hinaus, um die Wechselwirkungen zwischen Entwicklung globaler Prozesse und Strukturen im Rahmen der digitalen Transformation und den länderspezifischen Ausprägungen zu erfassen.
Zentrale Forschungsfragen sind dabei: Was ist das spezifisch Neue an der digitalen Transformation und der sogenannten „Daten-Ökonomie“? Welche Rolle kann die Digitalisierung bei der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele haben? Welche Chancen und Risiken stellen sich insbesondere in den Bereichen Mobilität, Energie und Landwirtschaft/Ernährung? Welchen Einfluss haben die Digitalisierung der industriellen Produktion und die Verbreitung digitaler Technologien in den verschiedenen Lebensbereichen auf Energie- und Ressourcenverbrauch? Welchen Beitrag kann die Digitalisierung für die „Circular Economy“ oder eine Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch leisten? Wie verändern sich die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen, etwa in der Arbeitswelt (quantitativ und qualitativ)? Welche Effekte bezüglich Verteilung, Beschäftigung und Wertschöpfung ergeben sich? Welche Wirkungen haben die neuen, digitalen Kommunikationsformen auf demokratische Beteiligungsprozesse? Welche Möglichkeiten der Gestaltung der Digitalisierung bestehen in sozialer und ökologischer Hinsicht? Diese Fragen berühren klassische Anliegen des SÖF-Förderschwerpunkts im FONA-Programm und sollten dementsprechend auch intensiver erforscht werden.
Ziel der SÖF-Aktivitäten im Bereich Digitalisierung ist es also, mit Hilfe transdisziplinärer Forschungsansätze die Potenziale und Risiken der Digitalisierung für eine Transformation in eine nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur zu identifizieren, zu analysieren und alternative Leitbilder der Digitalisierung und entsprechende Handlungsoptionen zu entwerfen. Als Ergebnisse der Forschungsarbeiten sollen neben wissenschaftlichen Erkenntnissen auch Handlungsoptionen für Politik, Wirtschaft, Nutzer/innen und Zivilgesellschaft erarbeitet werden.
Die neuesten Beiträge
Annotation vom 05.07.2018 - 19:00
Mir erscheint es als zu kurzgefasst, Digitalisierung auf industrielle Produktion und insbesondere auf Industrie 4.0 zu reduzieren – noch dazu im Kontext von Nachhaltigkeitsforschung. Sicherlich gibt es eine unüberschaubare Menge an offenen Fragen im Zusammenhang mit dieser speziellen Perspektive; der Text nennt eine Auswahl. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Logik, das umfassendere Thema „Digitalisierung“ auf den Teilaspekt „Industrie 4.0“ zu reduzieren – beispielsweise, um die Resultate vergleichbarer, für das Themengebiet unmittelbar anwendbarer zu machen und um das Untersuchungsspektrum zu reduzieren.
Aber m.E. sollte unter dem Forschungsthema „Nachhaltigkeitsbilanz und sozial-ökologische Gestaltungsoptionen der Digitalisierung“ die Chance genutzt werden, ein umfassenderes Nachhaltigkeitsbild der Digitalisierung zu entwickeln. Digitalisierung sollte allgemein als Prozess des sozio-ökonomischen Wandels, der durch Einführung digitaler Technologien, darauf aufbauender Anwendungen und deren Vernetzung angestoßen wird, interpretiert werden. In dieser Sichtweise ist Industrie 4.0 ein Ausdruck der Digitalisierung, neben anderen.
Die Frage ist, wie nachhaltig Informationstechnologie ist. Dazu gehört, dass man eben nicht mehr länger davon ausgeht, dass IT keine Umweltbelastung mit sich bringt bzw. „umweltneutral“ ist. Zu lange hat man sich vorgemacht, IT ermögliche per se ressourcenschonende Arbeitsweisen, Kooperation und Kommunikation. Jedem ist inzwischen klar geworden, dass das „papierlose Büro“ nur eine Illusion ist und im IT-unterstützten Büro nach wie vor jede Menge Papier verbraucht wird. Und nicht nur Papier.
IT benötigt Energie – und davon nicht wenig. Die Frage, wie viel davon wirklich zur Erfüllung der Aufgaben notwendig ist und wie viel „Leerlauf“ bzw. „Blindleistung“ dabei ist, also beispielsweise von Computersystemen verbraten wird, nur weil sie eingeschaltet sind und vielleicht noch gebraucht werden. Oder von Serversystemen, die Leistungen bereithalten, die vielleicht demnächst von jemandem genutzt werden könnten. Vereinfacht ausgedrückt: wie viel Energie braucht die IT unserer digitalisierten Gesellschaft und wie viel Energie würde auch problemlos genügen?
Nicht nur der Betrieb von Hardware benötigt Energie, natürlich auch die Produktion der Hardware – vom Rohstoff, über die Herstellung, über die Logistik bis zum mglw. vorzeitigen Nutzungsende und der Entsorgung. Auch gerne als Elektroschrott, getarnt als „Gebrauchtelektronik“, containerweise Richtung Afrika oder Asien, weil Müllexport offiziell unzulässig ist. Wie nachhaltig sind diese IT-Lebenszyklen?
Das Problem wird ja nicht kleiner. Selbst mit dem Bemühen um erneuerbare Energien entsteht ein stetes Mehr an zukünftigem Elektroschrott. Sind Photovoltaiksysteme etwa umweltneutral? Was macht man mit den Systemen, wenn sie ausgedient haben oder sich nicht mehr rechnen? Die Infrastruktur der smart grids wird sich sicher auch nicht unbegrenzt nutzen lassen. Was wird mit diesem Teil der Digitalisierung? Ist sichergestellt, dass beispielsweise diese Hardware wieder zur Produktion neuer Systeme genutzt werden kann? Was wird später eigentlich aus den diversen Generationen von Batteriespeichersystemen? Generationen von Sondermüll?
Natürlich ist analoge Technik ebenso wenig umweltneutral, natürlich müssen auch diese Systeme irgendwann entsorgt werden. Natürlich kann man analoge Technik auch in Containern um die halbe Welt schicken. Aber vielleicht hat eine umfassende Nachhaltigkeitsanalyse der Digitalisierung positive Nebenwirkungen. Vielleicht setzen sich so nachhaltige(re) Lösungen, Bauweisen, Betriebsarten durch, weil die Kosten ehrlicher kalkuliert und die entsprechenden Produkte und Dienstleistungen bessere Chancen auf dem Markt haben?
Diese Annotation bezieht sich auf:
In den letzten Jahren ist die Digitalisierung in nahezu allen Wirtschafts- und Lebensbereichen allgegenwärtig geworden. Die mit ihr verbundenen Chancen und Risiken werden zunehmend in Medien, Politik und Gesellschaft diskutiert.
Annotation vom 05.07.2018 - 16:18
Eine der Hauptaufgaben ist es, die bisher voneinander getrennten Diskussionen Nachhaltigkeit, Green Economy und Digitalisierung zusammen zuzuführen. Dies verlangt ein Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure aus Politik, Wirtschaft, Verbänden, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Eine besondere wichtige Rolle nimmt bspw. bei Industrie 4.0 dabei die Plattform Industrie 4.0 ein. Dort sind Industrie, Politik, Wissenschaft und Gewerkschaften vertreten. Bisher ist die Ausrichtung stark technologiefo-kussiert. Die Plattform Industrie 4.0 bleibt unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten einseitig auf Ressourceneffizienz reduziert und hat damit ein „Nachhaltigkeitsdefizit“. Green Economy und Nachhaltigkeit sind daher erst noch als Querschnittsthema in der Forschungsförderung und auf der Plattform Industrie 4.0 zu verankern.
Diese Annotation bezieht sich auf:
.
Annotation vom 05.07.2018 - 13:09
Flexibilitätsmarkt: Neue Chancen, neue Herausforderungen?
In Zusammenhang mit der Energiewende wird häufig angeführt, dass ein zunehmender Bedarf für den Einsatz von Flexibilität besteht, um Versorgungssicherheit effizient gewährleisten zu können. Flexibilität ist der Schlüssel zu einer Energiewirtschaft 4.0, in der dezentrale Erzeugung gemeinsam mit den Möglichkeiten, die die Digitalisierung eröffnet, ein enormes ökonomisches Potenzial nutzbar macht.
Flexibilität wird zukünftig eine zentrale Währung des Energiemarktes und der gesamten Energiewende sein. Es braucht aber mehr Instrumente, die zur Flexibilisierung beitragen – auf Seiten der Erzeugung, des Transports, der Speicherung, der Prozesse und des Verbrauchs.
Diese Annotation bezieht sich auf:
?
Annotation vom 05.07.2018 - 11:39
Wie kann gesellschaftliche Aufklärung im Zuge der Digitalisierung funktionieren?
Diese Annotation bezieht sich auf:
?
- ‹ vorherige Seite
- 2 von 13
- nächste Seite ›
Annotation vom 05.07.2018 - 22:27
von aa659673 am 05.07.2018
Der Prozess der Digitalisierung geht weit über die Industrieproduktion hinaus und umfasst alle Wirtschaftbereiche und den Konsum. Insofern wäre eine systematische Übersicht wünschenswert, bei der auch die Bedeutung von Daten und Algorithmen und die damit verbundenen Geschäftsmodelle sowie die Herausbildung sogenannter Plattformunternehmen reflektiert werden.
Diese Annotation bezieht sich auf: