Sozial-ökologische Transformation der Agrarsysteme
Autoren: Camilla Bausch, Bernd Hansjürgens, Karin Holm-Müller
1. Sozial-ökologische Problemlage
Die Neuausrichtung der Agrarsysteme ist in der EU (Gemeinsame Agrarpolitik GAP) und Deutschland seit der Jahrtausendwende nicht entscheidend vorangekommen. Industrielle Landwirtschaft bestimmt eine Erzeugung, die gekennzeichnet ist durch fehlende Internalisierung externer Kosten sowie durch eine immer stärkere Konzentration und Großproduktion. Dies hat vielfältige Konsequenzen, wie etwa ein massiver Biodiversitätsrückgang (einschließlich Bestäuber), Bodendegradation sowie eine hohe Konzentration meist diffuser Einträge in Böden und Wasser infolge von Überdüngung und dem Einsatz von Pestiziden. Darüber hinaus ist die exportorientierte hohe Fleischproduktion in Deutschland nicht nur aus Umweltgesichtspunkten problematisch, sondern aufgrund des Einsatzes von Antibiotika und steigender diesbezüglicher Resistenzen auch aus Gesundheitssicht. Würden Klimaaspekte in Landwirtschaft und Ernährung problemadäquat adressiert, gäbe es weiteren deutlichen Veränderungsdruck hin zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft mit ressourcenschonenderen, integrierten und umweltfreundlicheren Erzeugungs- und Anbaumethoden.
Alarmierend sind auch die Raten von Lebensmittelabfällen als Folge u.a. von dysfunktionalen, entkoppelten Wertschöpfungsketten. Ebenso ist die Ernährungskultur in Deutschland mit ihrem hohen Anteil tierischer Produkte vielfach weder gesund noch nachhaltig. Obwohl die Frage der nachhaltigen, regionalen Ernährung steigendes öffentliches Interesse erfährt, ist die sozial-ökologische regionale Produktion von Lebensmitteln noch immer ein Nischenmarkt. Die Entfremdung zwischen Nahrungsmittelerzeugung und Verbrauchern bleibt dabei ein Problem. Die sozial-ökologischen Auswirkungen fehlgesteuerter Agrar- und Ernährungssysteme beinhalten eine geringe Wertschätzung für landwirtschaftliche Produkte sowie der Arbeit im Landwirtschaftssektor. Auch kommt es zu Strukturproblemen im ländlichen Raum, auf die Antworten gefunden werden müssen.
Gleichzeitig werden der Anpassungs- und Innovationsdruck im Agrarsektor sowie die Flächenkonkurrenzen durch Bioenergie, städtisches Wachstum und neue Nutzungsfelder wie Bioökonomie, aber auch durch den Klimawandel und die politische Rahmensetzung wie die neue Düngeverordnung oder die UN Nachhaltigkeitsziele verschärft.
All dies macht eine tiefgreifende Transformation des Agrar- und Ernährungssystems erforderlich. Sozial-ökologische Forschungsansätze sollten Treiber und Innovationsmöglichkeiten (z.B. Digitalisierung, geänderte politische Rahmensetzung) für eine Agrarwende herausarbeiten, Fehlanreize, Strukturprobleme und Zielkonflikte – inklusive der Verlagerung von Problemen in andere Weltregionen - offenlegen und strukturelle Lösungsstrategien für eine nachhaltige landwirtschaftliche Produktion und gekoppelt damit einen nachhaltigen Konsum skizzieren.
2. Darstellung des Wissensstandes und Forschungslücken
Bisherige Forschungen adressieren vor allem Teilaspekte der genannten Probleme (z.B. bioenergetische Nutzung von Landschaftspflegerückständen). Es fehlen strukturelle und integrierte Untersuchungen, die Betrachtung der Treiber sowie Erforschung sozial-ökologischer Lösungsansätze bei Zielkonflikten. Zukünftige Forschung kann an Forschungs- und Umsetzungsaktivitäten anknüpfen bzw. aufbauen. Exemplarisch genannt sei das SÖF Kompetenznetzwerk Agrar- und Ernährungsforschung, die BMBF Fördermaßnahme „Nachhaltiges Landmanagement“ und die Sektorforschung des BMUB/BLN zu nachhaltiger Landwirtschaft vs. Biodiversität (Programm zu Biodiversitätsforschung des BMUB). Impulse etwa zu Nachhaltigem Konsum kommen auch aus den Handlungsempfehlungen des High-Tech Forums.
3. Beschreibung möglicher Forschungsfragen
Es werden integrierte Forschungsansätze benötigt, die wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Belange berücksichtigen und die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick nehmen. Dabei ist ein inter- und transdisziplinärer Ansatz entscheidend. Nutzungsmuster von natürlichen Ressourcen, Anreizsysteme und Regelwerke sollen – wo möglich – in realen Kontexten untersucht werden (z.B. durch Reallabore). Angesichts der Bedeutung des individuellen Konsums für Agrar- und Ernährungssysteme müssen auch sozio-kulturelle und individuelle Verhaltensmuster berücksichtigt werden. Treiber prägender Entwicklungen im Agrarsektor sollten herausdestilliert, darüber hinaus übergeordnete und gesellschaftlich relevante Themenbereiche identifiziert werden. Diese Bereiche sollten integriert und zielgruppenspezifisch mit Blick auf regionale und globale Herausforderungen sowie die einzelnen Bereiche der Agrarsysteme betrachtet werden. Folgende Themenbereiche sollten beforscht werden:
- Anforderungen an ein Agrarsystem aus der Perspektive des Biodiversitäts- und Klimaschutzes und Ansätze einer Governance bzw. einer Formulierung globaler und regionaler Gemeingüter
- Zusammenhang von Agrarsystem, Biodiversität und Lebensstilen: Berücksichtigung von Biodiversitätsaspekten in Instrumenten des nachhaltigen Konsums und die sich daraus ergebenden Governancefragen sowie die Bedeutung der Rolle und Wahrnehmung von Biodiversität in Lebensstilen
- Auswirkungen von unterschiedlichen Landnutzungen (inkl. Anbaupraktiken) auf biologische Vielfalt auf differenzierten zeitlichen, räumlichen und sozialen Skalen
- Rolle von Lebensstilen/Konsumverhalten sowie der Rahmenbedingungen und Anreize für einen verbesserten Schutz der Biodiversität bei individuellen und einzelwirtschaftlichen Entscheidungssituationen
- Integrative Betrachtung von Produktion und Konsum (Analyse der Möglichkeiten zur Vermeidung negativer Effekte etwa im Umweltbereich, der Rolle von Prosumenten, von Bildung unter Berücksichtigung der Möglichkeiten des digitalen Wandels und der Wirkung von Maßnahmen zu nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion)
- Governance-, Qualifizierungs- und Marktaspekte mit Blick auf Klimawandel–Anpassungsstrategien für Landwirtschaft und ländliche Räume
- Auswirkung von Veränderungen auf andere Regionen: globaler Beitrag zur Ernährungssicherung, regionale Nachfrage nach Ökoprodukten und Produkten mit speziellen Merkmalen (bspw. Weidemilch) und insbesondere Biomasse für die energietechnische und stoffliche Nutzung sowie Verlagerung von Flächennutzungskonflikten
- Mögliche Beiträge der Landwirtschaft zur Entwicklung nachhaltiger ländlicher Räume, etwa durch diversifizierte, umweltfreundliche Produktion und Schaffung von Einkommensquellen (z.B. Kombination aus Landwirtschaft und Tourismus/Handwerk) bzw. durch Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse Stadt-Land bzw. durch die Stärkung lokaler Wirtschaft (etwa Agrar- und Ernährungswirtschaft), durch Stärkung regionaler Produktion und Beschäftigung sowie regionaler Wertschöpfungs- und Verarbeitungsketten
- (Partizipative) Planungsansätze zur integrierten Entwicklung von Stadt und Land (und Landwirtschaft) einschließlich ihrer rechtlichen Durchsetzung
- Nachhaltigkeitseffekte von digitalen sowie sozialen Innovationen sind auch in der Ernährungswirtschaft und mit Blick auf nachhaltige Ernährung gezielter zu ermitteln und zu fördern („Von der Nische zum Mainstream“)
- Gestaltung nachhaltiger Ernährungssysteme vor dem Hintergrund kultureller Prägungen, Normen und Werte, Verhaltensmuster und sozialer Strukturen
- Hürden auf dem Weg zu einem nachhaltigen System der Lebensmittelversorgung einschließlich seiner Teilbereiche wie Vorleistungsprodukte für die Landwirtschaft, die agrarische Wirtschaftsweise sowie die Lebensmittelverarbeitung
- Sozial-ökologische Potenziale, Dynamiken und Auswirkungen von innovativen Praktiken und Technologien wie etwa solidarische Landwirtschaft, vertikale Landwirtschaft, Bioökonomie, Genom-Editing, Aquaponik-Systemen oder Digitalisierung
- Förderung von Bildungsangeboten/-formaten für nachhaltige Landnutzung und ländliche Entwick-lung, einschließlich von Aspekten der Nutzung digitaler Möglichkeiten für Nachhaltigkeitslösungen (für Schulen, Konsumenten, Politikgestalter, Zivilgesellschaft, Betriebe)
- Bewertung von Ökosystemleistungen in Agrarsystemen: Weiter- und Neuentwicklung von Systemen für die monetäre und nicht-monetäre Bewertung unter Berücksichtigung der Lokalität von Biodiversität
- Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen: Governance Ansätze oder Begründungen bestimmter Praktiken, Maßnahmen oder Instrumente müssen mit Unsicherheiten (z.B. über Einfluss des Klimawandels auf Artenspektrum, Wiederansiedelung von Biotopen in Agrarlandschaften) umgehen können. Es stellt sich die Frage des Handelns unter Unsicherheit
Die neuesten Beiträge
Annotation vom 06.07.2018 - 6:45
Margarethe Scheffler und Kirsten Wiegmann, Bereich Energie und Klimaschutz des Öko-Instituts
Zweifelsohne, Angebots und Nachfrageseite müssen gemeinsam gedacht werden, da andernfalls bei einer gleichbleibend hohen oder steigenden Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten diese importiert werden und die Umwelteffekte schließlich im Ausland auftreten (Leakage, direkte und indirekte Effekte).
Für die Entwicklung von Handlungsansätzen können beide Seiten trotzdem gut getrennt durchdacht und diskutiert werden. Wir empfehlen daher, sich hier gemäß des Titels „Transformation der Agrarsysteme“ auf die Seite der Produktion zu konzentrieren.
So ist es auch bei Gebäude und Wohnen geschehen. Dort gibt es die zwei Themenblöcke
• sozialökologische Transformation des Gebäudesektors
• Sozial-ökologische Dimensionen des Wohnens
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nachhaltigen Konsum
Annotation vom 06.07.2018 - 6:44
Margarethe Scheffler und Kirsten Wiegmann, Bereich Energie und Klimaschutz des Öko-Instituts
Der Klimaschutz wird in der Landwirtschaft in Zukunft eine größere Rolle spielen – beispielsweise durch eine Verankerung in der GAP oder auf Bundespolitischer Ebene. Dies könnte im Text ergänzt werden – z.B. so:
Der Klimaschutzplan des Bundes hat der Landwirtschaft ein THG-Minderungsziel von mindestens 15% bis 2030 zugewiesen. Um die Paris Ziele zu schaffen, muss der Sektor bis 2050 seine Emissionen etwa halbieren. Während die 2030 Ziele noch mit technischen Maßnahmen (z.B. Güllevergärung, verbesserte Düngeeffizienz) erreichbar sind, können die 2050er Ziele nur mit strukturellen Maßnahmen erreicht werden. Das wird u.a. darauf hinaus laufen die hohen Nutztierbestände in Deutschland zu reduzieren. Gleichzeitig wird es auch darum gehen die große Kohlenstoffsenke der Moorböden zu sichern. Dies erfolgt am besten durch Wiedervernässung und der Umwandlung von Ackerland zu Grünland auf Moorstandorten. Einige Regionen, insbesondere der Nordwesten Deutschlands wären von beiden Maßnahmen substanziell betroffen.
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Klimaaspekte
Annotation vom 05.07.2018 - 22:29
Hierzu bietet sich der Ansatz von Gaugler/Michalke an: Was kosten uns Lebensmittel wirklich? Ansätze zur Internalisierung externer Effekte der Landwirtschaft am Beispiel Stickstoff; in: GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society, Volume 26, Number 2, 2017, pp. 156-157(2)
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Analyse der Möglichkeiten zur Vermeidung negativer Effekte etwa im Umweltbereich
Annotation vom 05.07.2018 - 14:52
Was wären die Voraussetzungen einer solidarischen, biologischen Landwirtschaft?“ bzw. „Welche Möglichkeiten gibt es diese Entwicklungen von einer Nischenproduktion herauszuholen und zu fördern?“
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ozial-ökologische Potenziale, Dynamiken und Auswirkungen von innovativen Praktiken und Technologien wie etwa solidarische Landwirtschaft, vertikale Landwirtschaft, Bioökonomie, Genom-Editing, Aquaponik-Systemen oder Digitalisierung
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Annotation vom 06.07.2018 - 6:46
von aa65a6fd am 06.07.2018
Margarethe Scheffler und Kirsten Wiegmann, Bereich Energie und Klimaschutz des Öko-Instituts
Zusätzlich zur Wirkung auf ANDERE Regionen sollte es auch die Gelegenheit geben im Rahmen des Programms direkte regionale Auswirkungen von Veränderungen zu betrachten. Daher
Schlagen wir die Ergänzung des folgenden Forschungsthemas vor:
Ausgestaltungsoptionen für Regionen mit hohem sozial-ökologischem Transformationsbedarf: Mit Blick auf den Klimaschutz stehen Regionen mit einem hohen Viehbestand und Regionen mit einem hohen Anteil organischer Böden sehr wahrscheinlich tiefgreifende Transformation der Landwirtschaft bevor. Im Nordwesten Deutschland trifft sogar beides zu. In einer regionalen Vertiefungsstudie könnte mit Akteuren aus der Region und evtl. weiteren gesellschaftlichen Interessensvertretern erarbeitet werden, wie der Strukturwandel umwelt- und sozialverträglich stattfinden kann – das ist im Kern vergleichbar mit der Aufgabe der Kohlekommission.
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