Einleitungstext

Sozial-ökologische Ko-Transformationen von Versorgungssystemen

 

Autoren: Armin Grunwald, Camilla Bausch

1. Sozial-ökologische Problemlagen

Versorgungssysteme vermitteln die gesellschaftliche Nutzung von Ressourcen etwa über Technologien, Institutionen und Praktiken. Seit dem 19. Jahrhundert werden Energie, Wasser, Mobilität, Information und Kommunikationsmöglichkeiten sowie Textilien und Lebensmittel, aber auch Bildung und Gesundheitsdienstleistungen mittels Infrastrukturen in Versorgungssystemen bereitgestellt, die darüber zu einer gesellschaftsprägenden Kraft geworden sind. Weite Teile des individuellen und gesellschaftlichen Lebens werden nach den verfügbaren Versorgungssystemen ausgerichtet, so etwa Freizeitverhalten und Arbeit, Konsum und Wertschöpfung, Lebensstile, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle. Eine bei Infrastrukturen ansetzende gesellschaftliche Transformation von Versorgungssystemen in Richtung Nachhaltigkeit könnte also eine erhebliche Hebelwirkung für andere Bereiche entfalten. Umgekehrt bleiben Transformationsstrategien, etwa zum nachhaltigen Konsum, möglicherweise ohne große Wirkung, wenn sie nicht auch die Infrastrukturen betreffen, die ein nicht oder wenig nachhaltiges Handeln nahelegen, etwa in den Bereichen Energieversorgung, Mobilität und Ernährung. Die Transformation von Versorgungssystemen ist jedoch gerade aufgrund des Infrastrukturcharakters anspruchsvoll. Denn Infrastrukturen sind als sozio-technische Systeme dadurch gekennzeichnet, dass technische Arrangements und gesellschaftliche Handlungsmuster sowie Institutionen aufeinander abgestimmt sein müssen, um im Zusammenwirken die gewünschten Funktionalitäten zu erzielen.

Die sozial-ökologische Transformation ist daher grundsätzlich eine Ko-Transformation von – ggf. mehreren gekoppelten und grenzüberschreitenden – technischen Konstellationen, Verhaltensmustern, Lebensstilen, Regularien, Anreizsystemen, Wertschöpfungsketten und natürlichen Prozessen und Strukturen. Auf der technischen, der ökonomischen, sozialen, ökologischen und regulatorischen Seite müssen teils erhebliche Trägheiten und Pfadabhängigkeiten überwunden werden, und das auch noch simultan und synchron bei gleichzeitiger Erhaltung der Funktionalität der jeweiligen Versorgungssysteme. Transformationen bedürfen, je nach Skala von lokal bis global, sehr unterschiedlicher Governance-Ansätze und sind mit je unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert.

Zurzeit verschärft sich diese Problematik in mehrfacher Hinsicht. Das Zusammenwachsen der traditionell getrennten Infrastrukturen in Versorgungssystemen (etwa von Information, individueller Mobilität und Energieversorgung) führt zu einer ,Mega-Infrastruktur‘ mit dem Internet als, metaphorisch gesprochen, zentralem Nervensystem. Dezentralisierung und Liberalisierung erhöhen die Zahl der Akteure und führen zu neuen Akteurstypen (wie dem ,Prosumer` in der Energiewende). Auch die Globalisierung erhöht die systemische Komplexität. Technologische und gesellschaftliche Entwicklungen, aber auch Megatrends wie Klimawandel und demographischer Wandel wirken auf die langfristige Funktionalität und Stabilität der Systeme ein bzw. verlangen strukturelle Veränderungen. Hoher Investitionsbedarf trifft damit auf neue und sich verändernde Bedarfe.

Diese Entwicklungen führen zu sozial-ökologischen Herausforderungen und Chancen. Sowohl das Auftreten neuer Formen systemischer Risiken aus der inhärenten Komplexität zwischen technischen, ökologischen und sozialen Konstellationen bzw. Kopplungen und Interdependenzen zwischen Versorgungssystemen als auch intendierte Angriffe auf die Stabilität der zunehmend vulnerablen Infrastrukturen sind als mögliche Gefährdungen zu nennen. Auch ergeben sich aus Grenzen und Folgen der Nutzung natürlicher Ressourcen weitere Risiken.

Wissen über relevante Faktoren, Akteure, Rahmenbedingungen und Unterstützungsoptionen für Ko-Transformationen von Versorgungssystemen ist unabdingbar für vorausschauende und langfristig nachhaltige Politikgestaltung – welche auch die Resilienz der Versorgungssysteme gegenüber erwartbaren und nicht erwarteten Disruptionen steigern kann. Entsprechende Vorsorgeüberlegungen gebieten eine frühzeitige Befassung mit möglichen krisenhaften Entwicklungen und mit Strategien der Erhöhung der Resilienz sozial-ökologischer Konstellationen. Folgen für die ökologische Nachhaltigkeit – mit entsprechenden gesellschaftlichen Auswirkungen – sind sollten analysiert werden, etwa mit Blick auf Stoffströme. Auch die Sicherstellung demokratischer Kontrolle, der Erhalt von Teilhabe und Partizipationsmöglichkeiten sowie die Wahrnehmung von Gestaltungsmöglichkeiten sind zu bedenken, auch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen neuen Infrastrukturoptionen, die technisch möglich und gesellschaftlich und ökologisch gefordert sind.

2. Darstellung des Wissensstandes und Forschungslücken

In den letzten 10-15 Jahren sind in Richtung auf Ko-Transformation bereits einige Forschungs- und Umsetzungsaktivitäten unternommen worden:

  • Das niederländische „Transition Management" (z.B. Rotmans, Grin, Kemp) fokussiert auf Infrastrukturen wie Nahrungsmittelversorgung, Wasser und Energie. Einflussfaktoren und relevante Akteure in Transformationsprozessen wurden analysiert und z.T. kategorisiert, Schemata für Transformationsforschung und -politik wurden entwickelt;
  • Im Rahmen der deutschen Energiewende wurde Energie als sozio-technisches System interpretiert (FONA / Energietransformation, ENERGY-TRANS, Kopernikus/ ENavi), das daher nur im Rahmen einer Ko-Transformation zu verändern sei;
  • Forschung zu resilienten Energiesystemen (z.B. acatech 2016, Uni Bremen);
  • Forschung zu „kritischen“ und zu gekoppelten Infrastrukturen hat das Bewusstsein für die infrastrukturbedingten Vulnerabilitäten moderner Gesellschaften geschärft.
  • Forschung zur Digitalisierung im Hinblick auf eine sozial-ökologische Gestaltung und  die Überwindung der Undurchschaubarkeit von komplexen Algorithmen stehen erst am Anfang.

Damit liegen einige Wissensbestände zu Ko-Transformationen von Versorgungssystemen  bereits vor. Allerdings sind diese bislang eher ein „Hinterherlaufen": man befasst sich mit möglichen Folgen neuer Infrastrukturen und ggf. deren „Reparatur". Eine proaktive vorausschauende Erarbeitung von Gestaltungsoptionen in transdisziplinären Prozessen von Ko- Design und Ko-Produktion ist kaum vorhanden. Im Gegenteil wirkt es so, als sei die erwähnte Mega-lnfrastrukturalisierung und zunehmende bzw. notwendige Infrastrukturkopplung in einer Eigendynamik in Kombination aus technischem Fortschritt, Digitalisierung und ökonomischen Faktoren verfangen. Statt integrative, entscheidungsoffene Gestaltungsansätze zu erarbeiten, scheint in Gesellschaft und Politik die Annahme eines Technikdeterminismus vorzuherrschen.

3. Beschreibung möglicher Forschungsfragen

Mögliche Forschungsfragen für inter- und transdisziplinäre Forschungsvorhaben in diesem Bereich können sich erstrecken auf:

  • Systemverständnis, Dynamik, treibende Kräfte und mögliche Einflussfaktoren der Entwicklung und sozial-ökologischen Transformation von Versorgungssystemen, insbesondere aber nicht nur angesichts der Mega-Infrastrukturalisierung
  • Ausbuchstabieren von dadurch erzeugten Vulnerabilitäten moderner Gesellschaften
  • Analyse der Frage nach einer möglichen Relevanz des Vorsorgeprinzips oder ähnlicher Prinzipien
  • Ausbuchstabieren von Vulnerabilitäten, von Strategien der Resilienz, von diesbezüglichen Interdependenzen und einer verantwortlichen Governance der sozial-ökologischen Transformation von Versorgungssystemen
  • Untersuchung der sozial-ökologischen Nachhaltigkeitspotentiale (z.B. Effizienzgewinne) und Notwendigkeiten (etwa angesichts von Megatrends wie dem Klimawandel) aber auch der möglichen unerwünschten Kontra-Effekte
  • Entwicklung adäquater Methoden der Messung von Nachhaltigkeitseffekten in diesen zunehmend komplexen sozio-technischen Konstellationen
  • Entwicklung zukunftsgerichteter und vorsorgender Gestaltungsoptionen, Planungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien, um Versorgungssysteme in Richtung Nachhaltigkeit zu transformieren und Gestaltungsoptionen für zukünftige Entwicklungen zu erhalten
  • Untersuchung von Potenzialen und Synergien der Ko-Transformationen (ökonomische, soziale und ökologische) auf unterschiedlichen Skalen von lokal bis global
  • Berücksichtigung der lokalen Perspektive , wie sie etwa im kommunalpolitischen Diskurs um eine „integrierte Infrastrukturentwicklung“ oder in der Etablierung von Ladeinfrastrukturen für E-Mobilität deutlich wird und insbesondere von den Kommunen und der Stadt- und Regionalplanung benötigt werden
  • Bewertung von  koordinierten bzw. offenen Infrastrukturinnovationen als Treiber/Bremser für die Gestaltung eines sozial-ökologischen Transformationsmanagements gekoppelter Versorgungssysteme
  • Entwicklung robuster Modelle, die die komplexen Kopplungen von Infrastrukturen in Versorgungssystemen aufnehmen und die Entwicklung und Prüfung von Gestaltungsoptionen unterstützen; Festlegung von Anforderungen an derartige robuste Modelle unter Berücksichtigung des Anwendungsfelds (Skala der Umsetzung, Validierung, Sensitivität, Erfassung von Rückkopplungen und ggf. Rebound-Effekten etc.)
  • Analyse von jüngeren Effekten der Dezentralisierung (Energie, regionale Lebensmittel) in ihrem Einfluss auf die sozial-ökologische Transformation von Versorgungssystemen
  • Untersuchung von „mentalen Infrastrukturen“ (Welzer) als hemmende Faktoren der sozial-ökologischen Transformation
  • Untersuchung der Frage nach „Fenstern der Möglichkeit“ zur Transformation von Versorgungssystemen (z.B. Ende der Nutzungsdauer zentraler Elemente) angesichts vielfältiger Widerstände und Hemmnisse und unter Berücksichtigung möglicher neuen und langfristiger Pfadabhängigkeiten
  • Blick auf Länder oder Regionen mit nachholender Industrialisierung, die teils Infrastrukturentwicklungen überspringen können bzw. könnten und daher manche Pfadabhängigkeiten vermeiden bzw. vermeiden könnten zugunsten von sozial-ökologischen Versorgungssystemen
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