Kommentare/Ergänzungen/Ideen zum Thema „zu Fragen sozial-ökologischer Pfadentwicklung zu einer wachstumsunabhängigen Gesellschaft“
Sabine Weck, Bastian Lange, Christian Schulz

Als Mitglieder des Arbeitskreises Postwachstumsökonomien in der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL, siehe https://www.arl-net.de/de/projekte/postwachstumsökonomien) begrüßen wir es ausdrücklich, dass im FONA / BMBF-Kontext eine eindeutige Hinwendung zu Fragen sozial-ökologischer Pfadentwicklung zu einer wachstumsunabhängigen Gesellschaft eröffnet wird.
Wir möchten mit einigen konstruktiv-kritischen sowie ergänzenden Aspekten dieses Feld in ihrer Passgenauigkeit sowie den Erkenntnisbedarfen schärfen.
Zum Begriff „Postwachstum“: Verglichen mit der Breite der gegenwärtigen Debatte um Postwachstum verwendet der Ausschreibungstext ein eher enges Begriffsverständnis, in dem
a) Postwachstum mit Stagnation bzw. Schrumpfung einer Volkswirtschaft gleichgesetzt wird, und b) eine bewusste Abgrenzung vom Konzept der Degrowth vorgenommen wird, dem eine bestimmte Pfadabhängigkeit unterstellt und eine Ergebnisoffenheit abgesprochen wird. Unabhängig davon, dass beide Begriffe in der internationalen Literatur zwar nicht immer einheitlich, jedoch häufig synonym verwendet werden, erscheint uns das hier zugrunde liegende Begriffsverständnis aus mehreren Gründen zu eng bzw. irreführend:
- Die Gleichsetzung mit Schrumpfung/Stagnation suggeriert einen reaktiven Umgang mit einer negativ konnotierten (z.B. in politischen und gesellschaftlichen Debatten) Entwicklung, der Gestaltungspotentiale überdeckt.
- Es wird nicht zugestanden, dass das Degrowth-Konzept sehr wohl in bestimmten Sektoren oder (Welt-)Regionen auch weiterhin absolutes/materielles Wachstum für sinnvoll hält, und dass es eher um eine Abkehr von dem grundsätzlichen und dominierenden Leitbild Wachstum geht, an dem wirtschaftlicher und politischer Erfolg gemessen wird. Dabei wäre auch zu differenzieren, für welche Produktionsweisen, Güter und Dienstleistungen wachsende Ressourcenverbräuche in Kauf genommen werden könnten, während in anderen Bereichen Suffizienzaspekte zum Tragen kommen müssten.
- Mit dem Fokus auf die Bezugsebene Volkswirtschaft und deren Stagnation/Schrumpfung wird implizit die bisher vorherrschende Form der Wachstumsmessung (BIP) akzeptiert. Alternative Verfahren der Wohlstandsmessung, die inzwischen auch von durchaus strukturkonservativen Akteuren wie der EU und der OECD propagiert werden, würden es ermöglichen, den Blick über formale Unternehmen und ihre marktlichen Transaktionen hinaus zu erweitern (s.u.).
Vor diesem Hintergrund würden wir es begrüßen, für den Ausschreibungstext eine breiteres Begriffsverständnis zu wählen und damit mehr Spielraum für Ideendiversität und damit für die eingeforderte „Ergebnisoffenheit“ zu schaffen.
Zum Begriff „Pfad“: In den regionalökonomischen, regionalplanungsbezogenen und wirtschaftsgeographischen Forschungen weisen sich „Pfade“ als z. B. sektorale Komplexe (Automotiv, Chemie…) oder Regionen und Raumstrukturen definierende Komplexe aus. Damit geht eine Verkopplung mit institutionellen Routinen und territorialen Praktiken einher, die erst einmal mehrheitlich Pfadstabilisierung und Pfadsicherheit versprechen. Umkehr, Abweichung und Pfadelastizitäten hin zu neuen z.B. pfadunabhängigen Entkopplungsprozessen von Wachstumslogiken sind daher auch aus der Sicht institutioneller, Pfade sichernder Praktiken und regionaler Logiken zu verstehen, ohne die keine begründete Hinwendung zu Pfadabweichung möglich ist.
Ergänzend/Komplementär würde dies die Frage eröffnen, genauer zu erfassen, wo sich, durch wen, und wie, neue, pfadabweichende und wachstumsunabhängige Praktiken von unternehmerischen Allianzen, Kollektiven und Netzwerken lokal sowie translokal zu erkennen geben. Das Erkenntnisinteresse müsste dann aber stärker darauf ausgerichtet werden, pfadstabilisierende und pfadsichernde Praktiken als eine Form des „Borderings“, d.h. der Grenzziehung und somit Raumdefinition, zu beschreiben, die (oft) exkludierend für neue Nischenakteure ist.
Somit würden wir es begrüßen, macht- und konflikttheoretisch begründete Perspektiven einzubauen, um das Verhältnis zwischen Pfadsicherung vs. Pfadabweichung als eine Form der Grenzziehung besser zu verstehen. Dies eröffnet praktisch die Chance, kommunikativ und in der Zielansprache genauer nicht nur innerhalb der administrativen Raumkategorien und Scales /Maßstäbe Fragen nach Pfadabweichungen zu stellen, sondern innerhalb sektoraler Raumstrukturen oder technologischer Pfade sowie z.B. konsumptionsbezogenen Lebensstilmustern.
Zum begrifflichen Verhältnis Wachstumsabhängigkeit vs. Wachstumsunabhängigkeit: Die Ausführungen zeigen, dass hier zwei Varianten gegenübergestellt werden. Das ist im Prinzip für eine Ausschreibung völlig richtig, wir regen aber dazu an, den Blick ggf. genauer auf sogenannte Transitionsgeographien und gemischte Übergangsregime zu richten. Transitionsgeographien könnten dann gemischte Komplexe zu erkennen geben, in denen kombinatorische Praktiken zwischen Wachstumsabhängigkeit vs. Wachstumsunabhängigkeit zu erkennen sind. Diese stellen sozusagen Entwicklungsvarianten dar, die eine stärkere evolutionäre Perspektive einführen könnten. Die vorliegenden Ausführungen sind unserer Auflassung nach zeitlos betrachtet, es wäre für den Erkenntnisgewinn von Bedeutung, Zeit als Faktor der Evolution hin zu neuen wachsenden (sic!) wachstumsunabhängigen Pfaden zu beleuchten. Damit geht die Frage einher, was gelingende Kontexte und Faktoren für ein Transitionsdesign sind, und was hemmende Elemente sind.
Eine evolutionäre Perspektive richtet dann nicht nur den Blick auf die stofflichen Erträge, sondern auf die neoinstitutionelle Frage nach Institutionen, Communities und neuen Trägergruppen wachstumsunabhängiger Lebensstile, Konsummuster und unternehmerischer Praktiken.
Zum begrifflichen Verständnis von Gesellschaft: Wir regen an, den Blick von Gesellschaft auf Gesellschaften und neue Vergemeinschaftungen zu richten. Gesellschaft als Entität erscheint uns nur bedingt geeignet, facettenreich und detailgenau zu verstehen, wo gelingende Praxisgemeinschaften und Netzwerkstrukturen wachstumsunabhängige Formen an den Tag legen und wo nicht. Diese Hinwendung zu einer auch raumdifferenzierenden Sicht auf Gesellschaft erscheint uns nicht nur im Kontext von Debatten um den „Globalen Süden“ vs.- des „Globalen Nordens“ geboten, sondern auch aus der Sicht wachsender Raumdifferenzierungen in Europa. Gesellschaft und ihre Normen und Werte weisen gerade in jüngster Zeit immer stärker divergierende Prozesse als auf Kohäsion ausgerichtete Entwicklungen auf. Des Weiteren raten wir an, „Gesellschaft“ nicht essentiell anzusprechen, wie dies von rechtskonservativen Akteuren praktiziert wird, um Verständnisse von auf nationalstaatliche Gemeinschaft bezogene Aspekte von Verhalten, gesellschaftlichen Praktiken usw. zu vereinheitlichen. Diese mindern den Erkenntnisgewinn über regionaldifferenzierende Formen der Vergemeinschaftung und pfadabweichende Entwicklungsdynamiken.
Zum Verständnis von Real-Experimenten: Wir begrüßen es außerordentlich, dass die bspw. in Baden-Württemberg aber auch anderswo begonnenen Reallaboratoren als Experimentierräume stark ausgewiesen werden. Wir würden es begrüßen, wenn aber auch andere Experimentierkontexte, wie sie beispielsweise im Kunst- und Museumskontext, im Digitalisierungsbereich sowie in sogenannten Citizen Sciences Labs Geltung finden. Es wäre von Interesse, eine stärkere und mutigere Experimentierkultur abzubilden, um den Formenreichtum von alternativen Pfadoptionen in den Blick zu bekommen.
Zum Begriff „Wirtschaft“: Die in der jetzigen Ausschreibung prominente wirtschaftswissenschaftliche Betrachtungsweise, die auf formal verfasste, nach Marktprinzipien agierende Unternehmen fokussiert, sollte konzeptionell erweitert werden. Die weiter oben gestellte Frage nach den Institutionen, Communities und neuen Trägergruppen wachstumsunabhängiger unternehmerischer Praktiken beinhaltet auch ein erweitertes Verständnis von „Wirtschaft“. Insbesondere stellt sich die Frage nach den Potentialen von Unternehmensformen, die ökonomische und soziale Zielsetzungen verbinden (soziale Ökonomie, gemeinwohlorientierte Unternehmen, Community Enterprises, etc.). Es geht somit auch um Träger, Akteure und Strukturen eines „anderen Wirtschaftens“, in dem wirtschaftliche Entwicklung ein Ziel darstellt, das mit anderen gesellschaftlichen Zielsetzungen abgewogen werden muss, wie etwa der Lebensqualität, oder der sozialen Gerechtigkeit in einer Region.
Die Fragen zur Steuerbarkeit von Wachstumsdynamiken und den Instrumenten einer Postwachstumsstrategie sind in der Ausschreibung aus sektoraler (wirtschaftspolitischer) Perspektive gestellt. Gleichzeitig ist deutlich, dass eine Hinwendung zu einer möglichen Postwachstumsgesellschaft die trans-sektorale und umfassende Analyse institutioneller Routinen und Praktiken jenseits der unmittelbar wirtschaftspolitischen Instrumente und Steuerungsformen erfordert. So stellt sich beispielsweise auch die Frage, inwieweit regionale Entwicklungs- und Förderprogramme, Wirtschaftsförderung und Regionalentwicklung in Wachstumslogiken verhaftet sind oder inwieweit sie Spielräume und Experimentierfelder für wachstumsunabhängige Praktiken bieten.
Kontakt
PD Dr. Bastian Lange, Bastian.Lange@uni-leipzig.de

Damit die international vereinbarten Klima- und Nachhaltigkeitsziele erreicht werden können, müssen insbesondere industrialisierte Länder wie Deutschland, ökologische Belastungen, die aus ihren nicht-nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweisen resultieren, in einem erheblichen Ausmaß reduzieren. Dies konnte bisher jedoch weder durch Effizienzsteigerungen noch durch Konsistenzstrategien auch nur ansatzweise realisiert werden. Es bestehen berechtigte Zweifel bezüglich der unter anderem im Green-Growth-Ansatz unterstellten Gewissheit, dass es aufgrund der technologischen Entwicklung gelingen wird, eine hinreichend starke absolute Entkopplung von Wirtschaftsleistung und ökologischen Belastungen im zur Verfügung stehenden Zeitraum zu realisieren. In verschiedenen Transformations­diskursen wird zudem die Frage gestellt, ob weiteres Wirtschaftswachstum in den wohlhabenden Ländern zwingend notwendig ist, um die Lebensqualität dort zu erhalten. Aus der Perspektive einer starken Nachhaltigkeit werden eine Messung gesellschaftlicher Wohlfahrt, die sich primär am BIP orientiert, und darauf aufbauende wachstumsorientierte Politiken kritisiert.