Nachhaltigkeit, Umwelt und Gesundheit
Neu eingereichter Text
Autoren: Felix Tretter, Karl-Heinz Simon
1. Sozial-ökologische Problemlagen
Nicht-nachhaltige Entwicklung der Welt hat einen entscheidenden Einfluss auch die Gesundheit, denn Umweltbedingungen sind Bedingungen der Möglichkeit, Gesundheit als Teilziel des allgemeinen Ziels „Gutes Leben für alle“ (WHO 1999) zu erreichen. Gesundheit ist in den SDGs das Ziel #3, verknüpft aber auch mit Behebung von Armut (#1) und Hunger (#2). Bildung, abhängig von Armut, als SDG #4 ermöglicht Früherkennung von Krankheit, kompetente Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen und nicht zuletzt wirksame Gesundheitsförderung. Gesundheitsziele sind also offensichtlich im Kontext der Nachhaltigkeitsagenda sektoral und überregional - und mittelfristig sogar zirkulär-kausal - vernetzt und eng mit Umweltfaktoren (z.B. der Klimaentwicklung) verknüpft und bilden damit ein wichtiges Problemfeld innerhalb einer sozial-ökologischen Forschung.
Ein Schwerpunkt ist das pathogene Potenzial von „Urbanizität“, also dem neuerdings beforschten Grad des Stadtcharakters, allerdings vor allem in psychosozialer Hinsicht. Also: „kranke“ Ökosysteme erzeugen kranke Menschen! Entwicklungen hin zu mehr „Ökosystemgesundheit“ haben entscheidenden Einfluss auf den Gesundheitszustand einer Bevölkerung.
2. Darstellung des Wissensstandes und Forschungslücken
Betrachtet man nun zunächst die Kategorie Gesundheit genauer, wie sie von der WHO als Wohlbefinden und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit definiert wird, dann stellt sich Gesundheit als eine skalare Größe dar. Außerdem umfasst sie, weitgehend hierarchisch, aber mit Wechsel- und Rückwirkungen gedacht, körperliche, psychische und soziale Gesundheit. Daher sind verschiedene Krankheiten, die z.B. als Todesursachen erscheinen und die den Indikator „Lebenserwartung“ (bzw. „gesunde Lebensjahre“ oder „disease adjusted life years“ usw.) beeinträchtigen, zu betrachten: vor allem Herz-Kreislauferkrankungen, Lungenerkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Allergien usw. aber auch Depression, Schizophrenie, Angststörungen sind teilweise durch physiko-chemische Umweltfaktoren bedingt. So drückt der hohe Prozentsatz an Allergikern von 20 - 30 % ein gesundheitsrelevantes gestörtes Beziehungsverhältnis des Menschen zur gesamten Umwelt aus. Infektionserkrankungen und das Problem der Antibiotika-Resistenz sind wohlbekannt. Viruserkrankungen und ihre weltweites Ausbreitungsrisiko ist ebenfalls sogar von den G7-Staaten erkannt worden (z.B. Ebola-Krise).
Was Umweltprobleme betrifft ist vor allem der Klimawandel in Hinblick auf lebensnotwendige und qualitätsgesicherte Wasserversorgung in Dürregebieten für die Gesundheit relevant. Aber auch in Industrieländern sterben ältere Menschen temperaturbedingt durch Dehydrierung in den Sommermonaten vorzeitig. Sekundäre Gesundheitseffekte des Klimawandels mit der Minderung der Landwirtschaftserträge (beispielsweise durch Wasserverknappung und/oder extreme Temperaturschwankungen) haben regional die bekannten Folgen der Unter- und Mangelernährung.
Andere Einflüsse auf Umweltmedien, wie die Wasserbelastung durch Schwermetalle, neuerdings durch Medikamente, die dann in Nahrungsketten auftreten, Antibiotika-resistente Bakterien durch präventive Anwendung in der Massentierhaltung, Pestizide in der Landwirtschaft, die Luftbelastung durch Nanopartikel, die auch in anderen Umweltmedien auftauchen, Plastikpartikel in der Umwelt und ihre Effekte als endokrine Disruptoren usw. sind ebenso mit Gesundheitsaspekten eng verknüpft.
Was Personengruppen betrifft, die besonderer umweltbezogener Gesundheitsfürsorge bedürfen, ist an das Thema Gesundheit Heranwachsender (Kindergesundheit) zu denken, das vor allem mit Luftverunreinigung mit Nanopartikeln assoziiert wird.
Konvergenzbereiche von Gesundheitsanliegen und Umweltanliegen lassen sich zahlreiche finden, etwa: Diabetes mellitus ist eine der großen Volkskrankheiten, die zu großen Teilen auf Überernährung (und auch in gewisser Weise auf Fehlernährung) zurückzuführen sind.
Fachlich betrachtet hat in Deutschland die Umweltmedizin, auch im Kontext der Humanökologie, Befunde erbracht, aber es bleiben zahlreiche methodische Probleme zu bewältigen (Reichl 2011). Einige der oben genannten Problemfelder sind gut beforscht, es sind aber ein Reihe von Fragen offen, die im bevorzugt im Rahmen der Sozial-ökologischen Forschung bearbeitet werden können, um der Komplexität der Probleme gerecht zu werden und politikorientierte Empfehlungen solider aussprechen zu können.
Systematische Ansatzpunkte für Arbeitsprogramme zum Thema sind die Integration von Gesundheitswissenschaften (GW) und Nachhaltigkeitsforschung (NF) und auf Seiten der GW neben der Umweltmedizin (Reichl 2011), Public Health (Schwartz et al. 2015), oder Gesundheitsförderung (Fehr in Fehr et al. 2005) zu betrachten. Viele Programme wie Umwelt und Gesundheit (WHO 1989), Gesunde Städte, Clean air for Europe, Sustainable health and health care (z.B. https://www.sduhealth.org.uk/policy-strategy/what-is-sustainable-health.aspx), der jährliche World Health Summit in Berlin oder Aktionspläne zu Umwelt und Gesundheit ebenfalls vielfältige synergistische Anknüpfungspunkte für einen nachhaltigkeitsorientierten, sozial-ökologischen Gesundheitsdiskurs.
3. Beschreibung möglicher Forschungsfragen
- Herauszuarbeiten wäre eine systemisches Rahmenkonzept, in dem die Vielfalt an Schnittstellen zwischen biologischen, sozialen, infrastrukturellen und ökologischen Aspekten, letztere differenziert nach einer Ökologie der Person und der Ökologie der Umwelt, integriert dargestellt werden. Ursachen für Probleme, Wirkfaktoren und Handlungsaspekte sind zu ordnen. Ggf. sollte dieses Rahmenkonzept problemspezifisch konkretisiert werden, d.h. als Teil der spezifischen Forschungsfragen ausgearbeitet werden. Mit einem solchen Rahmenkonzept würde auch das Problem der Konsistenz bzw. der Konflikte zwischen SDGs in den Blick zu nehmen sein.
- Eine Reihe von Konvergenzbereichen zwischen Gesundheitsanliegen und Umweltdynamiken sind zu analysieren und im Hinblick auf Einflussmöglichkeiten zu untersuchen und hinsichtlich ihrer Problemlösungspotentiale zu bewerten. Daraus lassen sich einzelne Forschungsanliegen definieren. Beispielsweise ist der Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Ernährungsstilen, wie dem „Convenience“-Lebensstil, umfassend in den Blick zu nehmen. Im Lebensstilkonzept sind (sozial)psychologische und soziologische Faktoren gebündelt; der Zusammenhang mit Produktions- und Versorgungssystemen und ihrer vielfältigen Umweltauswirkungen ist zu explizieren. Weitere Einzelvorhaben müssten weitere der o.g. Detailfragen aufgreifen.
- Die Ressource Trinkwasser ist hinsichtlich der Belastung mit Schwermetallen (z.B. Quecksilber) und den damit verbunden Gesundheitsproblemen (insbesondere in sog. Entwicklungsländern und bezogen auf die Gesundheit Heranwachsender) zu erforschen. Die Gründe für die Kontaminationen sowie mögliche Einflussnahme sind näher zu untersuchen.
- Das Problem, dass ein Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Gesundheit von in der Landwirtschaft Tätigen besteht, ist bekannt. Die Einbettung in übergreifende Produktion- und Verwertungssysteme muss näher erforscht werden.
- Ebenso sind „Antibiotika-Pfade“, ausgehend von der Tierhaltung in das Grundwasser, in Trinkwasser und Nahrungsmittel, und damit in die menschliche Ernährung als großes Problem erkannt. Näher erforscht werden müsste die Verschneidung von Dynamiken in unterschiedlichen Versorgungsbereichen und den beeinflussten Umweltmedien.
- Auf der Seite der Institution „Gesundheitsökonomie“ sind Veränderungen festzustellen, die soziale und ökologische Wirkungen aufweisen. Z.B. ist die Verfügbarkeit von Health Care Delivery Units (HCDU) oder der Einsatz von Telemedizin hinsichtlich Vorteile (z.B. weniger Verkehr) und Nachteile (z.B. persönlicher Kontakt, Notfall-Management verkehrstechnisch schwieriger) zu bewerten.
- Im Hinblick auf die Klimaanpassungsforschung ist die Frage nach Krankheiten nach Umweltkatastrophen (z.B. Überschwemmungen, Dürren, Hitzeperioden) ein wichtiges Thema. Insbesondere die regionalen Unterschiede (die mit dem Konzept der Vulnerabilität beschrieben werden) sind systematisch auszuarbeiten, z.B. auch im Hinblick auf die Ausbreitung von Agglomerationsräumen.
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Annotation vom 06.07.2018 - 21:48
Hierunter sollte auch Forschung gefasst werden, die sich mit den Auswirkungen von Großvorhaben, etwa im Bereich der Energieversorgung oder des Verkehrs, auf den von Betroffenen erlebten körperlichen und psychischen Stress beschäftigen. Exemplarisch sei hier der Braunkohle-Sektor in Deutschland genannt: Zum einen sind im Zuge der Erweiterung der Tagebaue nach wie vor Menschen von Umsiedlung und Heimatverlust betroffen oder bedroht, zum anderen erfordert der bevorstehende Strukturwandel tiefgreifende Veränderungen im Leben der Menschen in den betroffenen Regionen. Hierzu findet bereits umweltpsychologische Forschung statt, die (gerade auch im Hinblick auf Langzeitwirkungen) erweitert und verstetigt werden sollte. Dazu gehört auch die Frage, welchen moderierenden Einfluss partizipative Prozesse im Rahmen der Planung haben.
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Eine Reihe von Konvergenzbereichen zwischen Gesundheitsanliegen und Umweltdynamiken sind zu analysieren und im Hinblick auf Einflussmöglichkeiten zu untersuchen und hinsichtlich ihrer Problemlösungspotentiale zu bewerten.
Annotation vom 06.07.2018 - 20:32
Ich würde hier noch anschließen: Das nordeuropäische Verständnis von "gutem Wetter" und damit verknüpfte Praktiken (leichte Kleidung, Aufenthalt im Freien) ist nicht mehr angemessen. Hier müssen Rahmungen und Narrative entwickelt werden, die als Grundlagen für Präventionsansätze im Bereich von Sonnen- und Wärmeschutz taugen. Wichtige Impulse kommen aus dem internationalen Umfeld.
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Im Hinblick auf die Klimaanpassungsforschung ist die Frage nach Krankheiten nach Umweltkatastrophen (z.B. Überschwemmungen, Dürren, Hitzeperioden) ein wichtiges Thema.
Annotation vom 06.07.2018 - 13:39
Hier auch, wie bereits oben in der Einleitung angesprochen, das Thema Urbanisierung / Verstädterung und die damit einhergehenden Herausforderungen, welche sich auf die (psychische) Gesundheit auswirken können - angespannter Wohnungsmarkt, Segregation, Exklusion, Ungleichheit - mitdenken. Interessant ist auch die damit verbundene Erhöhung der Dichte der Bevölkerung und dessen Auswirkungen auf die Gesundheit. Vor allem Konzepte zur Stärkung der Resilienz und Reduzierung der Stressfaktoren nach eingehender Untersuchung der Einflussfaktoren erhalten hier eine hohe Bedeutung
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Ursachen für Probleme, Wirkfaktoren und Handlungsaspekte sind zu ordnen
Annotation vom 06.07.2018 - 13:03
Das Rahmenkonzept könnte dabei auch die Adressaten von Gesundheitspolitiken (u.a. Bevölkerung, Ärzte...) und die institutionellen Voraussetzungen, die die Umsetzung und Realisierung einer nachhaltigen Gesundheitspolitik ermöglichen, in den Fokus nehmen.
-Wenn die Adressaten nicht erreicht werden, ist eine nachhaltige Gesundheitspolitik obsolet. Die Forschungen von Gigerenzer zeigen, dass hier noch ein erheblicher Forschungsbedarf besteht.
-Wenn die institutionellen Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist eine nachhaltige Gesundheitspolitik ebenso obsolet.
In diesem Sinne könnte das Forschungsprogramm u.a. um die folgenden Forschungsfragen erweitert bzw. die bestehenden Forschungsfragen spezifiziert werden:
1) Wie kann eine auf Nachhaltigkeitskriterien ausgerichtete Gesundheitspolitik so kommuniziert werden, dass die Adressaten diese nicht nur verstehen, sondern auch zum gesundheitsbewussten Handeln motiviert werden?
2) Welche institutionellen (und rechtlichen) Voraussetzungen sind zu schaffen, damit ein an Nachhaltigkeitskriterien orientiertes gesundheitsbewusstes Handeln von der Bevölkerung und den weiteren Akteuren realisiert werden kann, etwa mit Blick auf die Erreichbarkeit, die Finanzierbarkeit sowie auch die Qualität der Leistungen?
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systemisches Rahmenkonzept
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Annotation vom 06.07.2018 - 22:21
von aa65bfdf am 06.07.2018
Inzwischen ist Nachhaltigkeit als Konzept zwar auch im Gesundheitssektor nicht mehr völlig unbekannt, spielt aber in der Realität bisher eine viel zu kleine Rolle. Für eine positive Wende ist die human-/sozialökologische Gesundheitsperspektive (wie sie auch der für die Gesundheitsförderung grundlegenden Ottawa-Charta zugrunde liegt) der richtige Ansatz; jedenfalls baut der Ansatz „Nachhaltige Stadt- und RegionalGesundheit“, der seit geraumer Zeit mit Stiftungsmitteln beforscht wird, genau darauf auf. „Nachhaltigkeit, Umwelt und Gesundheit“ birgt wertvolles Potenzial sowohl für Schritte zur Nachhaltigkeit (durch Umdenken und Umsteuern im Gesundheitswesen) als auch für Gesundheit.
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