Einleitungstext

Neue Konsumverhältnisse

 

Autoren: Rainer Grießhammer, Barbara Lenz

1. Sozial-ökologische Problemlagen

Weltweit sind Produktion und Konsum seit dem Zweiten Weltkrieg exponentiell gestiegen. Durch den berechtigten Nachholbedarf in Entwicklungs-und Schwellenländern sowie die erwartete  Zunahme der Weltbevölkerung und die Herausbildung einer globalen Konsumentenklasse wird sich diese Entwicklung mittelfristig deutlich verschärfen. In den vier Feldern Biodiversität, Klimawandel, Stickstoffkreislauf und Landnutzung sind die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde bereits heute deutlich überschritten. Der Konsum in den industrialisierten Ländern, und gerade auch in Deutschland, trägt überproportional zu dieser Situation bei; der hohe Pro-Kopf-Verbrauch an Ressourcen entsteht dabei durch den Verbrauch an Waren und das veränderte Beschaffungsverhalten, verbunden mit gestiegenen Erwartungen an die 24/7-Verfügbarkeit von Waren. Die durch den Konsum ausgelöste Umweltbelastung ist so hoch, dass sie im globalen Maßstab nicht übertragbar ist. Konsum und Konsumverhalten in Deutschland stellen aus diesem Grund alles andere als ein generelles Modell für nachhaltigen Konsum dar. In mehreren Teilbereichen gibt es zwar ökologische oder nachhaltige Produkte und Dienstleistungen; sie haben aber Nischencharakter, der Mainstream wird davon zu wenig beeinflusst.

2. Darstellung des Wissensstandes und Forschungslücken

Mit der Agenda 2030 gibt es zwar ein neues Ziel- und Bewertungssystem. Jedoch beziehen sich die meisten vorliegenden Analysen bislang auf ökologischen Konsum und nicht auf nachhaltigen Konsum; es gibt überraschend wenige Produkt-Nachhaltigkeits-Analysen. Die Umweltanalysen wiederum fokussieren meist nur auf Treibhausgase und Energie. Konsumenten beziehen zwar implizit ökonomische und soziale Aspekte ein, interpretieren nachhaltigen Konsum aber zumeist als ökologischen Konsum. Weiter wird Konsum von Konsumenten meist als Kauf und Nutzung von Produkten und Dienstleistungen interpretiert, Wohnen bzw. Gebäudenutzung und Mobilität werden nur teilweise dem Konsum zugerechnet, die Querschnittsfunktion von Konsum wird unterschätzt. Wegen der Externalisierung von Umwelt- und Gesundheitskosten sagen die Marktpreise nicht die ökologische Wahrheit.

Die Zunahme der Menge an konsumierten Gütern und Dienstleistungen hat sich in den vergangenen Jahren stark beschleunigt. Das Angebot an Konsumgütern ist heute geprägt von schnellen Erneuerungszyklen, laufend neuen Produkten, Modellen und Varianten, die in immer kürzeren Zeiträumen auf den Markt gebracht werden. Effizienzfortschritte bei Produkten wurden überwiegend durch allgemeine Ausweitung des Konsums kompensiert. Gleichzeitig wurde die zeitnahe Befriedigung von Konsumwünschen wesentliches Element neuer Geschäftsmodelle im Einzelhandel, insbesondere im elektronischen Handel. Die notwendigen Rahmenbedingungen für alternative Geschäftsmodelle, die auf Hochwertigkeit und längere Nutzungsdauer, aber auch auf ressourcenschonende Warenbeschaffung bzw. -bereitstellung abzielen, sind wenig erforscht. Gleiches gilt hinsichtlich der Bedeutung von Hochwertigkeit und Haltbarkeit aus Sicht der Verbraucher.

Durch die Digitalisierung ändern sich viele Produkte und Dienstleistungen. Konsumentscheidungen werden immer stärker durch individualisierte und automatisierte Werbung und Maßnahmen auf der Basis von Algorithmen beeinflusst. Während bei den Waren bspw. ein neuartiger, da auf der Vermittlung über elektronische Plattformen beruhender, Gebrauchtwarenmarkt entsteht, werden neue Geschäftsmodelle für die Bereitstellung von Dienstleistungen, insbesondere im Transportbereich, entwickelt. Durch das sog. ‚Sharing‘ wird eine Erweiterung der Konsummöglichkeiten geschaffen, ohne dass der Erwerb eines Produktes Voraussetzung für den Konsum wäre. Die Auswirkungen, die sich aus der Digitalisierung von Waren und Dienstleistungen auf deren Konsum ergeben, sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für die Nachhaltigkeit des Konsums sind offen und größtenteils nicht untersucht, so dass Ansätze zu einer gezielten Beeinflussung derzeit nicht vorhanden sind.

Änderungen im Verbraucherverhalten werden in hohem Maß durch Kosten und Preise beeinflusst. Daneben orientieren sich Verbraucher an individuellen Präferenzen und Gewohnheiten ebenso wie an sozialen Normen ihrer Umgebung. fühlen sich durch die vielen Informationen und Änderungen eher überfordert, leiden zum Teil eher unter Zeitknappheit als unter Geldknappheit. Gestützt wird die zögerliche Reaktion der Verbraucher gegenüber einer Umstellung ihres Konsums durch oft ungünstige Rahmenbedingungen (bspw. für den Verbraucher nicht sichtbare Höherwertigkeit nachhaltiger Produkte, fehlende Information zu Eigenschaften des Produktes, aber auch der Produktion und Distribution; mangelnde Erreichbarkeit des Einzelhandels mit Verkehrsmitteln des Umweltverbundes; Eigentümer-Mieter-Dilemma bei der Gebäudesanierung). Informationsinstrumente und freiwillige Maßnahmen reichen von daher nicht aus. Dies gilt auch für die Ausrichtung der bisherigen gesetzlichen Rahmensetzungen auf Konsistenz –und Effizienzmaßnahmen bei gleichzeitig nur zögerlicher Internalisierung. Staatlicherseits wird keine Suffizienzstrategie verfolgt. Auf der anderen Seite stehen zahlreiche – zivilgesellschaftlich organisierte – soziale Innovationen der Verhaltensänderung  zur Verfügung, über deren Verbreitungs- und Verstetigungsbedingungen man noch keine ausreichenden Kenntnisse hat und die auch aus diesem Grunde (noch) nicht in eine politische Strategie eingebunden sind. Hier bedarf es der weiteren Entwicklung auf lokaler und regionaler Ebene bei gleichzeitiger Prüfung verbesserter Rahmen- und Förderbedingungen für verschiedene Konsumbereiche.

3. Beschreibung möglicher Forschungsfragen

Bei den nachfolgenden Stichworten geht es jeweils um die Analyse und Herausarbeitung von System- und Handlungswissen und Entscheidungswissen für Politik und Praxis:

  • Lücken, Hemmnisse und Chancen durch die Agenda 2030, im Besonderen mit „SDG 12 Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen“; Umsetzungsstand und Effektivität der politischen Bemühungen zur Umsetzung des 10 Year Framework of Programmes on Sustainable Production and Consumption (10YFP)
  • Durchgängige und ganzheitliche Nachhaltigkeits-Analyse von Problemen, Prozessen und Handlungsoptionen, von Produktion & Konsum, diese nicht nur aus ökologischer Sicht oder Klimarelevanz. Einbezug von sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Aspekten; bei den ökologischen Aspekten über CO2 und Energie hinaus auch auf Ressourcen, Chemikalien, Flächenverbrauch, Lärm, Biodiversität. Ganzheitliche, an den SDGs ausgerichtete Analyse der Wirkung von sozial-ökologisch ausgerichtetem Konsum. Analyse des Mainstreamkonsums und der Möglichkeiten zur Verbreiterung und Hochskalierung nachhaltiger Lösungen auf die Mehrheit der Konsument(inn)en.
  • Rolle von Unternehmen im Kontext nachhaltiger Konsum (jenseits der Ökologisierung von Produkten, Produktion und Distribution): Nachhaltigkeitskriterien in der B2B-Beschaffung,  nachhaltige Lieferketten, nachhaltiges Marketing
  • Rolle und Handlungsmöglichkeiten des öffentlichen Beschaffungswesens und des von großen privaten Beschaffern bei Unternehmen, Verbänden und Kirchen
  • Analyse des Verbraucherverhaltens (längerfristige Analyse von Trends von Geräteausstattung und Nutzungspraktiken) sowie Identifikation von Nachhaltigkeitssteigerungspotenzial und entsprechenden breitenwirksamen verhaltensbezogenen Interventionen
  • Konsumentengerechte Produktinformation (einschließlich der Informationen zu Produktion und Transport): Transparenz, Verarbeitbarkeit für unterschiedliche Verbrauchergruppen, geeignete Informationssysteme; aufbauend auf den Fragen „Wer weiß was?“ und „Wer muss was wissen?“
  • Synergien mit intentionalen Transformationen in zentralen Bedürfnisfeldern bzw. Sektoren (Wohnen, Stromversorgung, Mobilität, Ernährung, Information und Kommunikation).
  • Auswirkungen der zunehmenden Algorithmisierung auf nachhaltigen Konsum, Ableitung von Möglichkeiten zur Nutzung der Digitalisierung für nachhaltigen Konsum
  • Neue Geschäftsmodelle und -konzeptionen wie Sharing Economy, Prosuming, langlebige und reparaturfähige Produkte im Massenmarkt mit Reparatur-, Wartungs- und Update-Service
  • Rolle des Staates zur Beeinflussung von Produktentwicklung und Lebensstilen. Bewertung staatlicher Programme wie etwa des Nationalen Programms nachhaltiger Konsum, Impulsprogramme oder der High-Tech-Strategie. Welche Rolle spielen harte Instrumente wie Ordnungsrecht, Steuern oder Steuerbefreiung, und welche spielen weiche Instrumente wie etwa Nudging.
  • Governancestrategien zur Internalisierung externer Kosten, Governance nachhaltiger Lieferketten („über nationalen Tellerrand hinaus“), Incentivierung der Reduktion des Überflusskonsums, Entwicklung einer strategischen Suffizienzpolitik mit Zusammenwirken von Konsistenz, Effizienz und Suffizienz; Rahmen für kommunale Suffizienzstrategien, sowie Einbezug sozialer Innovationen
  • (Unternehmens-)kulturelle, technische, ökonomische und politische Rahmenbedingungen für alternative Geschäftsmodelle, die nicht auf Beschleunigung des Durchsatzes zielen
  • Bedeutung des demographischen Wandels (Bevölkerungszunahme, Alterung der Gesellschaft Migration) und dessen Auswirkung auf Infrastrukturen, Konsumpraktiken und die Inanspruchnahme von Energie, Ressourcen und Fläche
  • Erfolgreiche Modelle für nachhaltigen Konsum im Ausland, Übertragbarkeit auf Deutschland, Möglichkeiten einer internationalen Kooperation zur Förderung nachhaltiger Produkte
  • Ausgestaltung einer Agentur für sozial-ökologische Innovationen. Durchführung von Reallaboren zum nachhaltigen Konsum.
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